Mir bleibt noch etwas Zeit, einen weiteren besonderen Fleck Vancouvers vorzustellen: den Dr. Sun Yat-Sen Garden. Achtung, dieses Mal geht es viel um Landschaftsarchitektur! Ich sehe ein, dass das nicht jeder spannend findet. Gegebenenfalls weiterklicken…
Wir sind wieder in Chinatown. Ein trunkener Obdachloser brüllt seinem imaginären Freund auf der anderen Straßenseite mit raspelnder Stimme unverständliche Worte zu. Faltige chinesische Rentner werfen einem im Vorbeigehen misstrauische Blicke zu. Die teils renovierten, teils heruntergekommenen Gebäude sind untypisch eng zusammengerückt entlang der Bürgersteige. Irgendwo zwischen chinesischen Bäckereien, Ramsch-Läden, Dim Sum-Restaurants und verwahrlosten Hotels ist der Eingang zu dem schönsten chinesischen Garten, den ich kenne.
Tritt man durch das runde Portal in das Innere der hohen Mauern, verschwinden die Gestalten und Gerüche Chinatowns augenblicklich aus der eigenen Wahrnehmung und werden durch etwas nicht weniger Faszinierendes ersetzt. Obgleich der Garten in den Achtzigern gebaut wurde, ist er im klassischen Stil der Ming Dynastie gestaltet. Was das genau bedeutet, kann ich euch auch nicht sagen. Der Garten ist jedenfalls nicht alt, tut aber so. Erstaunlich ist, dass dieses vermeintlich “Alte” auf so meisterliche Weise geschaffen wurde. Gleich auf den ersten Eindruck scheint alles zu stimmen an diesem Ort. Die Proportionen, die Raumgrenzen, die Stimmung, es ist alles wohl durchdacht.
Bei einem Tee erklärt uns eine zierliche chinesische Studentin in schwer verständlichem Englisch die Gedanken hinter diesem und jenem Detail des Gartens. Das Grundkonzept ist, die Dinge in Balance zu halten. “Hohler” Bambus wird durch “dichte” Sandstein-Säulen ausgeglichen. Eine runde Tür zur einen Seite des Pavillons wird mit einer eckigen Tür zur anderen Seite ausbalanciert. Schroffe Felsen gegen weiche Blattwerk-Textur. Was andere Gäste langweilt, bereitet mir einen unerwartet spannenden Tag.
Doch die schmale Studentin bemerkt die gähnenden Gesichter und wechselt von Gestaltungs-Philosophie zu konkreten Konstruktionsweisen. Besonderer Ton am Grund des Teiches lässt das Wasser jadefarben schimmern. Die Dächer verfügen über sogenannte Drip-Tiles. Statt in einer Regenrinne gesammelt zu werden, tropft das Niederschlagswasser an bestimmten Stellen herunter. Die Tropfen fallen auf unterschiedliche Oberflächen und erzeugen eine Art Regenkonzert. Wie sich das anhört, weiß ich leider nicht. Wir waren an einem der wenigen regenfreien Tage in dem Garten. Dennoch, man muss es den Architekten lassen, dieses Idee ist wie geschaffen für Raincouver.
Um der Gruppe zum Abschluss noch das eine oder andere Lächeln zu entlocken, packt die zierliche junge Dame noch ein paar Fun Facts aus. Die Galerien sind deshalb nicht gerade und symmetrisch, sondern stets leicht geknickt, der Boden leicht an- oder absteigend, damit die bösen Geister nicht in den Garten gelangen. Chinesische Geister, wie ich jetzt weiß, haben keine Knochen und können daher nur geradeaus, nicht aber um Ecken gehen bzw. schweben. Dies ist anscheinend auch der Grund, warum in jedem traditionellen chinesischen Restaurant kurz hinter der Eingangstür eine Wand kommt, um die man herumgehen muss. Knochenlose Geister hin oder her, der Sun Yat-Sen Garden ist ein wundervoll durchdachter Ort mit überraschender Wirkung. Es ist fast so, als ob die meisterhaft ausbalancierte Umgebung die Besucher selbst in einen etwas ausgeglicheneren Gemütszustand versetzt.